Deutsches Schulportal / Elterkolumne August 2025
„Keine Ahnung. Frag mal Papa“. So lautete etliche Jahre meine bewährte Standard-Antwort, wenn meine Jungs mal wieder eine dieser faszinierend spezifischen Kinderfragen stellten und etwas von mir wissen wollten, was mein leider reichlich durchlöcherter Bildungshorizont nicht hergab. Welcher Dinosaurier die längsten Knochen und den größten Hunger hatte zum Beispiel. Wie man von uns am besten an den Südpol kommt und wen man dort antreffen wird. Oder wie der Sender eines Feuerwehrfunkgeräts funktioniert.
Die traurige Wahrheit ist: In derartigen Angelegenheiten gerate ich zuverlässig ins Schwimmen. Geographische Koordinaten, technische oder gar tierische Belange sind meine Sache nicht, und ich spreche hier nicht von versiertem Detailwissen, sondern teilweise von gravierenden Mängeln an der Basis. Wie ich mein Abitur und am Ende meinen Doktortitel trotz eklatanter schwarzer Flecken in der Allgemeinbildung dennoch bekommen habe, ist eine andere Geschichte. Heute setze ich stattdessen auf vertiefte Kenntnisse in meinen Herzensbereichen – zwischenmenschliche Beziehungen zum Beispiel, sozialpsychologische Phänomene, Musik und die Kraft der Sprache. In jedem Fall betrachte ich es als schicksalhafte Fügung und großes Glück, dass ich für die ganzheitliche Bildung der Nachkommen einen Joker an meiner Seite habe: den ausgesprochen breit gebildeten, interessierten und tagesaktuell informierten Vater meiner beiden Jungs, der die Fragen unserer Söhne viele Jahre lang, unterstützt durch Master Google und das ein oder andere Fachmagazin im Regal, mit Versiertheit beantworten konnte.
Ganz am Anfang gab es natürlich auch bei mir ein paar goldene Jahre der mütterlichen Allwissenheit. Ich erinnere mich selig an jene Kleinkindzeit, in der die Basiskenntnisse über die Welt vermittelt werden – der erste Schnee, die erste heiße Herdplatte, das erste Mal Kresse-Ansähen und ihr beim Wachsen zusehen – und die Kleinen die vermeintliche Universalgelehrtheit der Eltern mit staunenden Augen keine Sekunde infrage stellen. Dann aber begann jene Phase, in der meine Bildungslücken immer offensichtlicher wurden und meine Kinder in manchen Bereichen auf einmal mehr wussten als ich selbst. Kein Wunder: Schließlich studierten sie im Gegensatz zu mir wochenlang Fachliteratur und lauschten Wissenspodcasts, wahlweise über Dinosaurier, Survivaltricks, Modelleisenbahnen oder die Römer. In all diesen Bereichen konnte ich den stetig wachsenden Wissensvorsprung der Zöglinge mit Großmut verkraften. Und auch später, als mein Ältester als Digital Native längst deutlich routinierter und geschulter als ich über die Bildschirme wischte und in Rekordtempo Nachrichten tippte, übte ich mich in Gelassenheit.
In keinem Bereich aber wurde ich von der kindlichen Überlegenheit derart heftig überrollt wie bei der KI. Klar hatte ich mitbekommen, dass da irgendwas im Gange ist in Sachen künstliche Intelligenz, das in vermeintlich weiter Ferne für uns womöglich einmal eine Bedeutung haben könnte. Die Wandlung dieses futuristisch anmutenden Wesens zum ganz praktischen Alltagshelfer aber hatte ich schlicht verpasst. Im Gegensatz zu meinem Sohn natürlich. Das hieß konkret: Während ich bei meinen Recherchen noch auf die Google-Suche setzte, Zeitungen durchforstete, wissenschaftliche Dokumentationen querlas und nach einem geführten Interview stundenlang meine handschriftlichen Notizen abtippte, hatte mein Großer längst diverse KI-Apps auf seinem Smartphone installiert und spielte sich mit Leichtigkeit und Chuzpe durch die verschiedensten Tools. Ganz gleich in welcher Lebenslage befragte er hemmungslos ChatGPT. Für Theaterprojekte ließ er sich von der Sound-KI Spezialeffekte generieren. Die, immerhin selbst vorbereiteten, Texte für sein Französisch-Referat ließ er sich von der Sprach-KI vorsprechen. Und das Symbolbild für sein Referatsposter erarbeitete er – Überraschung – in bester Zusammenarbeit mit der Bilder-KI. Das alles geschah innerhalb weniger Wochen und mit einer angstfreien Selbstverständlichkeit und alsbaldigen Routiniertheit, die mich staunen ließ.
Mittlerweile ist eine Schulwoche, ja nur ein Schultag und insbesondere -nachmittag ohne KI am Schreibtisch längst die Ausnahme. Stattdessen gehören die künstlichen Kollegen im Alltag meines Sohnes so selbstverständlich mit dazu wie der Taschenrechner und die Leuchtmarker in seinem Federmäppchen. Damit ist er Teil der großen Mehrheit unter seinen Altersgenossen, schließlich zeigen aktuelle Umfragen, dass mehr als drei Viertel der Schülerinnen und Schüler regelmäßig KI-Tools nutzen, wenn es um die Schule geht.Schule im KI-Blindflug
Bei den Lehrerinnen und Lehrern allerdings ist diese Tatsache meiner mütterlichen Erfahrung nach bislang nur sehr bedingt angekommen. Stattdessen herrschen dort in Teilen jene Unbedarftheit und Naivität vor, die mir aus meiner eigenen KI-freien Zeit nur allzu bekannt vorkommen. Da ist die Lehrerin, die den Schülerinnen und Schülern großzügig mehrere Schulstunden lang Zeit gibt, um in Teams am PC mit Internetzugang die Ursachen für den Klimawandel zu recherchieren, und einfach nicht verstehen kann, warum eine der Gruppen vier von den fünf Stunden durchchillt und am Ende eine perfekte Präsentation vorzuweisen hat. Da ist der Lehrer, der der Klasse ein Erörterungsthema nach Schema F als Hausaufgabe aufgibt, das eine KI innerhalb weniger Sekunden erledigt, und der sich bei der Korrektur wundert, zu welch ungeahnten sprachlichen Höhenflügen sonstige Durchschnittsschreiberlinge auf einmal in der Lage sind.
Was sich bei diesen Vertretern der alten und jahrzehntelang bewährten Unterrichtspraxis immer deutlicher zeigt: Traditionelle Bewertungsmuster und Aufgabenstellungen sind in Zeiten von KI zunehmend nicht mehr sinnvoll. Hält man an ihnen fest, sind Mogelei und Müßiggang angesichts der Vielzahl an ausgereiften KI-Tools fast zwingend: In den Fremdsprachen liefern Übersetzungs-KIs perfekte Versionen jeglicher Textformen. Referate über Standard-Themen produziert die KI mit nur einem Mausklick fix und fertig samt Gliederung, Unterpunkten und neuerdings sogar noch Quellenangaben, von der Lösung mathematischer Gleichungen innerhalb von Millisekunden ganz zu schweigen. Jeder Pubertierende, der da trotz Handy neben dem Heft enthaltsam bleibt, hat eine definitiv bewundernswerte Selbstdisziplin.
Es gibt aber immer öfter auch Lehrkräfte, die sich genau deshalb für andere Unterrichts- und Bewertungsformen entscheiden. Bei uns zuhause gibt es dafür sehr deutliche Gradmesser, konkret das Stresslevel meines Sohnes und die Ernsthaftigkeit, mit der er bei der Vorbereitung auf den nächsten Tag zu Werke geht. Immer öfter muss ich heimlich schmunzeln, wenn ich feststelle, dass hier ein weiterer Pädagoge realisiert hat, wie der Hase läuft, und deshalb etwas verlangt, was eben keine KI mal so eben ausspucken kann. Dann liest mein Sohn nächtelang noch die Deutschlektüre fertig, weil er weiß, dass die Lehrerin dazu hintergründige Details wissen will, die kein Zusammenfassungsprogramm der Welt zu bieten hat. Dann fuchst er sich hinein in gewiefte Textaufgaben. Oder läuft mit seinen Schulkollegen beim Schreiben eines Drehbuchs zu einem Film mit selbsterdachter Geschichte zur Hochform auf, weil die KI – bislang zumindest – in Sachen Kreativität und Denken um die Ecke eben noch lange nicht so weit ist wie ein Schülerhirn, das mit Lust, Neugierde und Anspruch gefordert wird.
Es sind genau diese Lehrer, die mir auch Hoffnung machen, wenn es um die Zukunft der Schule angesichts der immer stärker werdenden KI geht. Ebenso wie beim Smartphone gilt aus meiner Sicht auch hier: Verdrängen ist keine Lösung, Verbieten ebenso wenig. Stattdessen braucht es eine dauernde und ebenso offene wie wachsame Auseinandersetzung mit der KI und ihren Möglichkeiten und Gefahren. In Anbetracht der explodierenden Technologie ist das ohne Frage eine konstante Überforderung. Stellen muss sich die Schule ihr dennoch, denn ein Klassen- wie Kinderzimmer ohne KI wird es schon bald nicht mehr geben.
Ich selbst habe, nicht zuletzt angeregt durch meinen Ältesten, mittlerweile damit begonnen, mich intensiver mit der KI zu beschäftigen. Und je mehr ich über sie lerne, desto verlässlicher schwanke ich zwischen Faszination und Gänsehautmomenten. Was meine Arbeitsweise anbelangt, habe ich zur Erleichterung meines Sohnes zumindest etwas aufgeholt. Bei Recherchefragen nutze ich zunehmend auch ChatGPT, PDFs lasse ich mir mittlerweile regelmäßig zusammenfassen und beim Brainstorming zu knackigen Untertiteln danke ich der KI immer öfter für inspirierende Vorschläge. Auch darüber hinaus hat die KI Einzug erhalten in unser Haus. Denn stellen mir meine Kinder heute bohrende Fragen zu Dinoknochen oder Funkgeräten, befrage ich entweder selbst schnell die App oder antworte zunehmend selbstverständlich: „Keine Ahnung. Frag mal ChatGPT. Und prüfe die Quellen“. Mein Mann trägt es mit Fassung.