Franz Liszt und die Kraft der wenigen Töne

NZZ / Mai 2025

Der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes widmet sich auf seinem neuen Album einer wenig bekannten Seite von Franz Liszt. Im Zentrum steht „Via Crucis“, ein ebenso karges wie intensives musikalisches Gebet. Ein Gespräch über Vorurteile, Mut zu wenig Noten und eine Kindheit im Off.

An den Felshängen brechen sich die Wellen, in der Ferne ragen steinerne Grabhügel in die Luft und harren ein paar Wikingerhütten ihrer Besucher. Wer pulsierende Hochkultur sucht, ist auf der kleinen norwegischen Insel Karmøy fehl am Platz, stattdessen bestimmt hier die Natur das Leben der Menschen. Vor mittlerweile 55 Jahren kam an diesem archaischen Ort Leif Ove Andsnes auf die Welt, jener Pianist, der heute international für seine sensiblen Interpretationen gefeiert wird. Zur Musik hat der Philosoph an den Tasten über seine Eltern gefunden: sein Vater spielte Euphonium und leitete in seiner Freizeit eine Band, schon als Kind sang Andsnes im Chor und entdeckte bald auch das Klavier für sich, wo er oft stundenlang Taste um Taste drückte. „Ich habe sehr früh gespürt, dass ich hier selbst etwas gestalten kann und die Musik am Klavier meine Sprache ist“, erzählt Andsnes. Gleichwohl sei er nie auf die Idee gekommen, dass das Klavier einmal sein Leben werden könne. „Ich habe lange Zeit überhaupt nicht gewusst, dass es auch Menschen gibt, die die Musik als Beruf haben“, sagt Andsnes. Erst als Jugendlicher sei er erstmals auf einen professionellen Musiker getroffen.

Wenige Jahre darauf begann Andsnes sein Studium am Musikkonservatorium in Bergen, wo er bis heute lebt. Schon damals hat sich der Künstler intensiv mit Franz Liszt beschäftigt, diesem nicht selten als effekthascherischen Tastenlöwen und virtuosen Vieltöner beschriebenen Komponisten. „Wir wollen Leute immer gerne in eine Schublade stecken“, sagt Andsnes, und in der Tat hätte Liszt das Klavier auf eine völlig neue Art orchestriert und ganz neue Klangwelten geschaffen. Dabei werde aber oft vergessen, wie stark sich Liszt entwickelt habe im Laufe seines Lebens. Nach zwei intensiven Jahrzehnten als Virtuose und Unterhaltungskünstler auf den Bühnen folgte schließlich ein radikaler Rückzug und eine Besinnung auf den Glauben, die darin mündete, dass Liszt 1865 in Rom sogar die niederen Weihen empfing.

„In den Spätwerken von Liszt öffnet sich eine außergewöhnlich intime, einsame und oft auch abstrakte Welt“, sagt Andsnes. Das wohl extremste Werk aus dieser Schaffensphase ist „Via crucis“, in dem Liszt die einzelnen Stationen Jesu am Kreuzweg musikalisch ausdeutet und das im Zentrum von Andsnes neuem Album steht. Zusammen mit dem Norwegian Soloists Choir unter der Leitung von Grete Pedersen nähert sich der Künstler hier auf verletzliche und unmittelbare Weise einer kaum bekannten Seite von Liszt und gewährt Einblick in dessen Zweifeln und Glauben, das sich in der Musik eindringlich widerspiegelt. Von „Via crucis“, einem Werk, in dem Liszt teilweise deutlich den tonalen Rahmen verlässt, war der Pianist von Beginn an fasziniert. „Dieses Werk hat mich eigenartig stark angezogen“, so Andsnes, im selben Moment aber habe es ihn auch verwirrt und geängstigt. „Via crucis ist eine absolut nackte Komposition und ich habe mich lange gefragt, wie dieses Stück funktionieren soll, weil da oft so wenige Noten sind“. Umso mehr müsse man als Interpret darauf vertrauen, dass die Musik in ihrer Konzentriertheit ihre Kraft entfalte. „Es braucht Raum und Zeit für dieses Werk“, so Andsnes, und in manchen Momenten herrsche eine schier unglaubliche Stille in der Musik. Etwa dann, wenn Jesus seine Mutter sieht. „In diesem Augenblick ist eine heilige und reine Form von Liebe spürbar“, sagt der Interpret, während sich in dem Stück ansonsten viel Schmerz und Verzweiflung offenbare. Man spüre, wie stark Liszt mit seinem Glauben gerungen habe und wie präsent für ihn wohl auch sein eigenes Lebensende gewesen sein mag. Der einzige Moment, in dem eine fließende Bewegung in das Klavierspiel komme, sei die Erlösung von Jesu am Schluss. „Da kommt auf einmal Licht herein in die Musik und am Ende bleibt ein sehr ruhiges Gefühl“. Gleichwohl sich Andsnes nicht als Christ bezeichnet, ist ihm die religiöse Tradition nahe. „Ich bin mit dieser Prägung und Kultur aufgewachsen und sie ist definitiv ein Teil von mir und bedeutet mir sehr viel“, sagt der Künstler. Nach der Aufnahme des Stückes sei er wie erschlagen gewesen. „Das war wirklich erstaunlich. Da war so eine große Spannung und extreme mentale Anstrengung spürbar, dass ich komplett erschöpft war, obwohl ich doch nur einzelne Noten gespielt hatte“, erzählt Andsnes.

Auch mit den weiteren Stücken auf seinem Album widmet sich der Pianist der nachdenklichen, feinen und spirituellen Seite von Franz Liszt. Diese hallt etwa wider in den vielseitigen und oft impressionistisch erscheinenden „Consolations“, ausgesprochen zarten und sanglichen Stücken. „Man bekommt hier eine Ahnung davon, wie Liszt wohl improvisiert hat“, sagt Andsnes, und oft würden die Stücke wie das Gespräch zweier Menschen erscheinen. Mit zwei Sätzen aus den „Harmonies poétiques et religieuses“, die durch Gedichte von Alphonse de Lamartine inspiriert wurden, beschließt Andsnes seinen Blick auf den nach innen gewandten Liszt. Das „Andante Lagrimoso“ noch entwickelt er als „Werk voller Kummer“, bevor er sich in der Palestrina-Hommage „Miserere, d’après Palestrina“ virtuos und prachtvoll schließlich nach außen öffnet. So vertraut diese aus dem Vollen schöpfende Seite von Franz Liszt auch erscheint, so verändert nimmt man sie als Hörer nach den vorangegangenen Gebeten wahr. „Franz Liszt hat eine absolut außergewöhnliche Entwicklung in seinem Leben durchlaufen, aber gleichzeitig denke ich, dass diese sehr intime Seite schon immer da war bei ihm“, sagt Andsnes. Mit den Jahren sei sie schließlich immer mehr hervorgetreten, „destilliert bis zu einem extremen Grad“.

Leif Ove Andsnes ist dieses Höchstmaß an Konzentration und Verinnerlichung offensichtlich vertraut und begegnet man dem Pianisten im Gespräch, erlebt man einen introvertierten und feinsinnigen Künstler, der seine Worte mit Bedacht wählt und oft lange nachdenkt, bevor er antwortet. „Die Musik ist bis heute meine Sprache“, sagt Andsnes, und ein Leben ohne diese Ausdrucksform sei für ihn nicht mehr vorstellbar. Dass er einst ohne große Ablenkung, Druck und Einfluss von außen auf der Insel zum Klavier finden konnte, ist für ihn im Rückblick ein Geschenk. „Ich bin sehr glücklich, dass ich so groß werden durfte. Ich war dadurch absolut frei und konnte in Ruhe meinen eigenen Weg gehen und meine Stimme finden“, sagt Andsnes. Vielleicht ist ihm auch deshalb gerade jener Liszt so besonders nahe, der in seinem Spätwerk um jeden einzelnen Ton gerungen hat.