Aimard im Boxring

Im Mai bringt der New Yorker Architekt Daniel Libeskind die klassische Musik an Frankfurter Orte, die überhaupt nicht dazu passen. Deshalb könnte das Experiment „One Day in Life“ funktionieren.

crescendo / Februar-März 2016

Das Boxcamp Gallus in der Rebstöcker Straße 49a in Frankfurt am Main hat mit klassischer Hochkultur so wenig zu tun wie ein Schnellimbiss mit einem Gourmetrestaurant. „Nicht rumhängen – sondern reinkommen“ lautet das Motto des dortigen Pädagogik-Projekts und allwöchentlich lassen Kinder und Jugendliche hier die Fäuste wirbeln. Die Decken hängen tief, die Luft riecht nach Anstrengung, Ehrgeiz und Adrenalin, an den Seiten baumeln voluminöse Boxsäcke, in der Mitte des Raumes thront weiß-blau umzäunt der Boxring.

Wo junge Ringer normalerweise ihre Kräfte messen, wird am 22. Mai 2016 ein Konzertflügel stehen. In den Ring steigt dann der Konzertpianist Pierre-Laurent Aimard und statt Anfeuerungsrufen und Siegesgeheul erklingt Beethovens späte Klaviersonate Opus 110. Die Überraschung im Boxring ist Teil des außergewöhnlichen Konzertprojekts „One Day in Life“ der Alten Oper Frankfurt und des Architekten und Projektgestalters Daniel Libeskind, bei dem klassische Musik am 21. und 22. Mai 2016 an Orte getragen wird, die man erst einmal kaum mit Musik in Verbindung bringt. Da wird die Commerzbank Arena zur Bühne für Geigerin Carolin Widman. Da ertönen am Bahnsteig der U4 in Richtung „Bockenheimer Warte“ Solowerke aus Barock, Klassik und Moderne und wird im Sigmund-Freud-Institut Arnold Schönbergs Streichtrio op. 45 aufgeführt.

Welchen Blick hat ein Künstler, der aus einer anderen Fachrichtung kommt, auf die Kunstform „Konzert“? Das war die Ausgangsfrage, die Dr. Stephan Pauly, den Intendanten der Alten Oper in Frankfurt, auf die Idee brachte, den renommierten Architekten Daniel Libeskind vor etwa eineinhalb Jahren für ein Konzertprojekt in Frankfurt anzufragen. Vorgaben gab es keine, möglichst frei und in alle Richtungen offen sollte Libeskind seine Ideen rund um die Live-Darbietung von Musik entfalten können. Entstanden ist ein Aufsehen erregendes musikalisches wie urbanes Großprojekt, das im kommenden Frühling für zwei Tage ganz Frankfurt prägen wird. An insgesamt 18 verschiedenen Spielstätten werden über die Stadt verteilt Konzerte zu erleben sein, bei denen Ort, Musik und thematische Dimension jeweils in besondere Beziehung zueinander treten.

Daniel Libeskind, der in jungen Jahren selbst als Musiker sein Geld verdiente, sieht in dem Projekt eine Art „kulturelles Experiment“, das die Wirkung von Musik und Raum auf mannigfache Weise auslotet. „Für mich war Musik immer schon nicht nur eine Leidenschaft, sondern auch etwas, das meine Arbeit als Architekt tief beeinflusst und prägt. Dieses Projekt übersteigt meine kühnsten Träume in Bezug auf die Erforschung der Beziehungen zwischen Stadt, menschlicher Existenz, Musik und Raum“, so Libeskind. Als Konzertstätten hat der Architekt dabei Orte in Frankfurt gesucht, die im Alltag nichts mit Musik zu tun haben, an die man sonst nicht kommt oder die zwar bekannt sind, aber so noch nie erlebt wurden. An jeder dieser Spielstätten findet ein programmatisch fein abgestimmtes Konzert statt, das im Laufe des Tages im Abstand von jeweils zwei Stunden mehrfach wiederholt wird. So kann sich das Publikum gleichsam eine konzertante Wanderroute zusammenstellen, auf der es einen Tag lang durch Frankfurt wandelt und Musik in unterschiedlichsten Kontexten erlebt. Neben der Musik und dem Ort hat Libeskind jedem Konzert eine Dimension zugeordnet, die das menschliche Dasein in seinen verschiedenen Facetten beschreibt. „Arbeit“, „Wille“, oder „Erinnerung“ heißen diese Parameter zum Beispiel und geben jedem Ereignis eine ganz eigene Konnotation. „Der Hörer begibt sich auf einen Gang durchs Leben allgemein und durch sein eigenes Leben im Speziellen – das schafft einen besonderen gedanklichen Raum“, so Stephan Pauly. Unter der Dimension „Körper“ wird in einem OP-Saal im Hospital zum heiligen Geist etwa das Stück „Le tableau de l’opération de la taille“ von Marin Marais aufgeführt. Es ist die musikalische Darstellung einer Blasenstein-Operation, lässt das Zittern des Patienten, die Schmerzen, die Angst und schließlich den Prozess der Heilung hörbar werden. Während sich die Hörer frei im OP-Saal bewegen, erklingt die Musik. „Da können viele Emotionen und Gedanken entstehen“, so Pauly. Ein ganz anderes Dreiecksverhältnis aus Musik, Raum und Dimension wird im Rebstockbad geboten. Dort wird das Vox Orchester zwischen zwei Schwimmbecken sitzend Händels „Wassermusik“ aufführen, bevor ein Bajan-Spieler Stefan Hussong vom Sprungturm aus Sofia Gubaidulinas „Et exspecto“ spielt. Die Dimension: „Schwerkraft“.

Hört man Beethovens späte Klaviersonaten in einem Boxcamp oder Mozarts-Requiem im VGF Betriebshof Gutleut der Frankfurter Trambahn-Gesellschaft, so führt die Kontextverschiebung zu einem veränderten und womöglich intensiveren Hörerlebnis. Die Routine des vertrauten Konzertsaals wird aufgebrochen, Momente der Fremdheit und Irritation bedingen eine Sensibilisierung in der Wahrnehmung des jeweiligen Werks. „Offene Ohren und geschärfte Sinne“ – das ist es, was der Hörer laut Dr. Pauly durch neue Konzertformate wie „One Day in Life“ gewinnen kann. „Man hört anders, begegnet der Musik anders, so dass man Musik letztlich noch aufmerksamer und empfindsamer erleben kann“, so Pauly. Für den Intendanten der Alten Oper in Frankfurt ist die Arbeit an neuen Konzertformaten ein wichtiger Bestandteil der Aufgabe als Veranstalter. Eines aber ist sie nicht: Ein Ersatz des klassischen Konzertsaals. So sind neue Konzertformate für Pauly weder Alternative noch das Standardformat der Zukunft. „Gerade in der heutigen, stark digitalisierten Welt hat der Konzertsaal aufgrund seiner fokussierenden Kraft eine große Bedeutung. Wenn da 2.400 Menschen gebannt in eine Richtung blicken und einem Interpreten lauschen, ist das total faszinierend.“

Ob im Boxraum, im OP-Saal oder im klassischen Konzertsaal: Letztendlich geht es für Stephan Pauly immer darum, „dass die Hörer dem Werk nahekommen und dass sie sich selbst als Wahrnehmenden erleben.“ In Frankfurt am Main gibt es dazu bald eine weitere Möglichkeit.

Dorothea Walchshäusl