Gipfeltreffen zweier Legenden – Evgeny Kissin erobert Beethovens solistisches Klavierwerk

Beethovens Musik ist für ihn wie eine Psychotherapie. Klavier-Legende Evgeny Kissin hat mit 45 Jahren sein erstes Beethoven-Album eingespielt.

crescendo / August 2017

Manche Künstler erlangen schon zu Lebzeiten Legendenstatus. Evgeny Kissin gehört dazu. Wunderkind, introvertiertes Tastengenie, ein Ausnahmekünstler nicht ganz von dieser Welt – zahlreiche Mythen eilen dem russischen Pianisten voraus.

Nun hat sich Kissin einer anderen Legende angenommen und bringt – zum ersten Mal in seiner Karriere – ein umfangreiches Album mit Solo-Werken von Ludwig van Beethoven heraus. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, bereits als junger Überflieger mit diesen Stücken zu brillieren. Umso bemerkenswerter ist, wie lange sich der 45-Jährige Zeit gelassen hat mit dem komplexen Oeuvre des Komponisten und wie intensiv und selbstkritisch er sich bis heute damit auseinandersetzt.

„Als ausübende Musiker müssen wir versuchen, der Großartigkeit dieser Musik so nahe wie möglich zu kommen“, sagt Kissin an einem Sommertag in Prag und verschränkt demutsvoll die Hände ineinander. Der Musiker mit den weichen Gesichtszügen, den dunklen Locken und dem konzentrierten Blick scheint von einer Aura der Melancholie umgeben: Ein introvertierter Denker und kompromissloser Interpret, für den es keine Alternative gibt zur grenzgängerisch ernsthaften Auseinandersetzung mit der Musik. Jahrzehntelang hat er in seinen Interpretationen um Beethoven gerungen, nun hat er für sein Album gültige Einspielungen ausgewählt, die als Mitschnitte von Konzerten in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind und neben den 32 Variationen über ein eigenes Thema in c-Moll einige der wichtigsten Sonaten Beethovens umfassen, darunter die Appassionata, die Mondschein-Sonate und die Sonate opus 111.

Beethovens Werk begleitet Kissin seit frühesten Tagen. „Seit meiner Kindheit habe ich viel Musik von Beethoven gehört und dabei immer gefühlt, dass er sehr nahe an meinem Herzen ist“, so Kissin. Doch als er begonnen habe, sie selbst zu spielen, sei ihm klar geworden, dass es nicht das Gleiche sei, sich etwas nahe zu fühlen und es auch sehr gut zu spielen. Am Klavier habe es für ihn vielmehr „Jahre gedauert, um sich in dieser Musik zu Hause zu fühlen“. Beethoven vermittelt Evgeny Kissin dabei nicht nur als genialer Komponist ein Gefühl von Heimat, sondern auch als jene kämpferische Persönlichkeit, die sich kontrastreich, emotional und dynamisch in seiner Musik widerspiegelt und allen Hindernissen zum Trotz auch den Sinn für Humor nicht verloren hat. „Das ist für mich bei Menschen und im Leben sehr wichtig“, sagt Kissin. Er könne sich nicht vorstellen, mit jemandem befreundet zu sein, der keinen Humor habe. Und genauso hoch bewerte er diese Qualität in der Musik. So ist Beethoven für ihn schließlich auch eine Art musikalischer Freund und Wegbegleiter. „Beethovens Musik hilft dabei, trotz aller Schwierigkeiten und Verletzungen zu leben und zu kämpfen“, sagt Kissin, und in gewisser Weise sei sie damit „die beste Art der Psychotherapie“.

Diese existenzielle Deutung offenbart sich unmittelbar in Kissins Spiel. Hingebungsvoll, intensiv und präsent begibt er sich in die Stücke hinein und macht sie als leuchtende „Bilder von Gefühlen“ erlebbar, die zutiefst menschliche Erfahrungen ausdrücken. Für Kissin ist Beethovens Musik „voll kraftvoller Emotionen“ und so sei es kein Wunder, dass jemand wie E.T.A Hoffmann sie als ‚romantische Musik‘ bezeichnet habe.

Auch der scheinbar scheue Zeitgenosse Kissin entpuppt sich im Laufe des Gesprächs als Romantiker im ursprünglichen Sinne, der statt aller vergeistigten Theorie das pure Gefühl und Erleben in den Mittelpunkt stellt. Dabei entzieht sich ein Gespräch mit ihm konsequent den üblichen rhetorischen Rhythmen und Kommunikationsfloskeln. Manchmal schweigt der Pianist minutenlang, bevor er mit sorgsam gewählten Worten auf eine Frage reagiert. Oft geht sein Blick dann ins Unbestimmte, bevor er sich räuspert, zurückzukehren scheint in die Wirklichkeit und bestechend klare Antworten gibt.

1971 in Moskau geboren, begann er schon im Alter von 2 Jahren Klavier zu spielen, acht Jahre später gab er sein Debüt als Solist mit Orchester. Zeit seines Lebens hat Evgeny Kissin nur bei einer Lehrerin Unterricht genommen und bis heute lebt die mittlerweile hoch betagte Anna Pavlovna Kantor unweit des Künstlers und begleitet seinen Weg. „Bei mir entschied die Natur für sich und die Musik ist ein Teil meines Lebens, seit ich mich erinnern kann“, erzählt Kissin. Früh schon begann er sich allerdings zu fragen, wozu die Menschen die Musik eigentlich brauchen. Die Antwort fand er mit elf Jahren bei seinem ersten Solo-Recital in Moskau. Damals spielte er in einem kleinen Raum, bald wurde es eng im Zuschauerbereich und in der Not wurden Stühle auf die Bühne gestellt. Nach dem Konzert wurde Kissin gefragt, ob ihn die Leute nicht gestört hätten. Das Gegenteil war der Fall: „Die Menschen um mich herum haben mir geholfen. Da habe ich gemerkt, dass das von meiner instinktiven Freude kommt, mit anderen die Musik zu teilen, die ich liebe“, so Kissin.

Diese Erkenntnis hält bis heute an und ist auch der Grund, warum sich Evgeny Kissin auf der Bühne weitaus wohler fühlt als im Studio. Auf dem Beethoven-Album finden sich folgerichtig ausschließlich Live-Mitschnitte. Kissins schlichte Erklärung: „Es ist einfach besser. Unabhängig davon, wie sehr ich versuche, mich im Studio davon zu überzeugen, dass mein Spiel später ja auch von tausenden von Menschen gehört werden wird, erlebe ich nie das gleiche Gefühl, wie wenn neben mir ein Live-Publikum sitzt.“ Selbst wenn er in einer leeren Konzerthalle übe, spiele er vollkommen anders, als wenn er zuhause am Klavier sitzt. So stellt der Musiker fest: „Das beeinflusst mein Spiel und meinen Geist und das passiert völlig natürlich. Ich mache das nicht bewusst, ich nehme es nur wahr“.

Der vermeintliche Einzelgänger Kissin braucht die Nähe des Publikums und das introvertierte Tastengenie ist in Wahrheit ein zutiefst romantischer Gestalter. Viel spannender als die Legende ist doch immer noch die Wirklichkeit.