Die fabelhafte, eigenwillige, wundersame Welt des Grigory Sokolov

Der russische Pianist bleibt vielen ein Rätsel: Anstelle von lästigen Interviews beschäftigt er sich lieber mit Seriennummern seiner Konzertflügel oder dem Innenleben eines Flugzeugmotors. Nach 20 Jahren gibt es jetzt zumindest ein Album – ein Live-Mitschnitt aus dem Jahr 2008 zwar, aber immerhin. Ein Versuch einer Annäherung.

crescendo / Februar 2015

Der Mann ist eine Ahnung, ein Schatten, ein Phantom. Sein Mythos eilt ihm weit voraus, und wo auch immer er spielt, hinterlässt er ergriffene Herzen. Sokolov selbst jedoch verbleibt im Dunkeln. Wenn man so will, ist der 64-Jährige der letzte große Pianist der alten russischen Schule. Seine musikalischen Vorfahren heißen Anton Rubinstein, Vladimir Sofronizki und Emil Gilels, sein Spiel ist die furiose Vereinigung von technischer Elastizität, dynamischem Volumen und filigraner Farbgebung. Und doch: Sokolov entzieht sich jedem Vergleich, bleibt singulär und rätselhaft.

Klar, er lebt für die Musik, doch er lebt auch ein eigensinniges Leben neben ihr und um sie herum, und forscht man nach den Charakteristika der lebenden Legende, so stößt man auf die unstillbare Neugierde eines genialischen Geistes und auf die Akribie eines Perfektionisten.

Der genialische Geist strebt stetig über die Vernunftsgrenzen des irdischen Daseins hinaus, er ist leidenschaftlicher Kenner und Deuter von Malerei, er verschlingt die neueste Literatur über die Weltraumforschung, wälzt Werke von Nostradamus und anderen kosmischen Denkern. Sokolov, der Perfektionist, ist verrückt nach nummerischen Details und abstrakter Logik. Sein Hobby ist das Dechiffrieren von Barcodes, seine Passion das Studium von Flugzeugs-Navigationstechnik und -Motorenbau und selbstredend macht sein fotografisches Gedächtnis auch vor seinem Instrument nicht Halt: So wie andere ihre früheren Adressen archivieren, hat Sokolov die Seriennummern aller je von ihm gespielten Flügel im Kopf, dazu den jeweiligen Ton, die Anschlagsqualität, die Pedaltechnik und – auf den Zentimeter genau – den Standplatz auf der Bühne.

Tritt Grigory Sokolov auf eine solche Bühne, hat er etwas Gnomenhaftes an sich. Ein wunderlicher älterer Herr, der gleich einer Marionette zum Flügel stakst, die Gesichtszüge maskenhaft verschlossen, die Füße tapsig voreinander gesetzt, kein Blick ins Publikum, kein Auftrittsgebahren, keine Show. „Ich mag all die Dinge nicht, die nichts mit Musik zu tun haben. Alles, was die Musik stört, entzieht ihr die Kraft und hat keinen Platz neben ihr. Es ist ganz normal, dass man diese anderen Dinge nicht mag, wenn man die Musik mag”, sagt Sokolov dazu. All das störende Beiwerk des Konzertlebens ist ihm zuwider: Der Zwischenapplaus, der Smalltalk mit dem Publikum, der Rausch des Beifalls, die Star-Interviews und die überall kultivierten Signierstunden. Stattdessen inszeniert Sokolov das Unscheinbare: Verhuscht und geduckt erklimmt er mit dem unnahbaren Charme des Aus-der-Zeit-Gefallenen die Bühne, er setzt sich, spielt und taucht ab. Wenn die Zuschauer am Ende des Konzerts toben, stampfen und klatschen, schenkt er ihnen mit viel Glück ein kurzes Nicken nach der letzten Zugabe, dann huscht er zurück in die Garderobe.

Ein Pianist möchte hinter der Musik verschwinden. Das ist die Botschaft Sokolovs und gleichzeitig ist sie ein Paradoxon. Denn umso verinnerlichter er im Klang versinkt, umso intimer wird sein Spiel und umso mehr steht Sokolov als Interpret und Mensch im Fokus. Musik ist tot, außer man interpretiert sie und bringt die eigene Persönlichkeit in sie ein – davon ist Sokolov überzeugt. Was daher zählt, ist die innere Welt des Musizierenden, jener Kosmos, in den das Publikum durch die Interpretation des Künstlers bestenfalls entrückende, betörende Einblicke gewinnt. Bei Sokolov erscheint diese Welt emotional ungemein vielschichtig, gedankenvoll und fein ausbalanciert. Immer folgt sein Spiel der Logik des musikalischen Inhalts, nie geschieht es zum Selbstzweck, und so gleicht jedes Konzert einer erneuten Niederkunft.

1950 in St. Petersburg geboren und als Einzelkind aufgewachsen, wollte Grigory Sokolov als Kind Dirigent werden. Als Dreijähriger stand er in seinem Elternhaus auf einem Podium und schwang den Taktstock zu alten Schallplattenaufnahmen mit Mahler- und Beethoven-Einspielungen, mit fünf Jahren begann er schließlich, Klavier zu lernen und träumte fortan von einem Leben als Pianist. Bald wurde dieser Traum Wirklichkeit: Mit 12 der erste Klaviersoloabend in Leningrad, mit 16 der Sieg beim Tschaikowsky-Wettbewerb – Sokolovs Karriere war vorgezeichnet. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs jedoch war der Künstler vor allem in Russland bekannt, seit gut zwanzig Jahren erst bereist er regelmäßig die westlichen Podien und hinterlässt allerorts staunende Jünger und jubilierende Kritiker.

Gleichwohl: Der verschrobene Einzelgänger Sokolov blieb unbeirrbar und unangepasst. Bis heute biedert er sich weder dem Publikum noch dem Konzertbetrieb an. Er verweigert Flügel, die älter als fünf Jahre sind, er verweigert virtuose Zugabenartistik und jegliche Anpassung an Konzertveranstalter. Einmal im Jahr erarbeitet sich Sokolov ein neues Programm, das oft quer durch die Epochen geht. Meist kauert er in seinem Haus in St. Petersburg dann sinnierend über Notentexten, ein stummer, konzentrierter Übender auf der Suche nach der perfekten Zusammenstellung, der von sich sagt, dass er genau genommen 24 Stunden am Tag übe, da die wichtigste Arbeit für die Musik im Kopf passiere.

Steht das Programm schließlich fest, reist Sokolov damit um die Welt und wer ihn bucht, muss eine unumstößliche Stückabfolge akzeptieren. Sofern sich Sokolov überhaupt buchen lässt – in England beispielsweise spielt der Künstler seit geraumer Zeit keine Konzerte mehr. Die neuesten Visa-Bestimmungen für ausländische Künstler empfindet er als lächerlich umständliche Bürokratie und despektierliche Gängelung. Dann eben nicht.

Am Konzerttag selbst ist Sokolov ebenso diszipliniert wie gnadenlos: In der Nacht die üblichen drei bis vier Stunden Schlaf, am Morgen das Frühstück im Hotel, dann der Weg in den Konzertsaal. Und während sich Kollegen mit ein, zwei Stunden Einspielzeit zufrieden geben, verharrt er Stunden um Stunden am Instrument auf der Bühne; er lauscht und testet, verschiebt und korrigiert und bringt jeden Steinway-Techniker an den Rande seiner Möglichkeiten. Sokolovs eigene mechanische Expertise, so sagt man, reiche mitunter sogar über jene der Techniker hinaus – auch hier ist der genialische Perfektionist Sokolov ganz in seinem Element. Klar ist auch: Für einen Klangästhetiker wie Sokolov ist die Rolle des Instruments nicht zu unterschätzen: „Der Flügel und ich, wir müssen uns gut verstehen”, hat er einmal gesagt, und: „Man braucht Stunden, um ein Instrument zu verstehen, denn jeder Flügel hat seine eigene Persönlichkeit, und schließlich sollen wir am Ende zusammen Musik machen.” Wenn die beiden dies schließlich tun, entstehen nicht selten Momente für die Ewigkeit, Augenblicke, in denen Sokolov dem Hörer einen kostbaren Blick in seine innere Welt gewährt. Für ihn ist ein solcher Zustand nur auf der Bühne erreichbar und konsequenterweise lehnt er Studioaufnahmen seit etlichen Jahren grundsätzlich ab. Wenn überhaupt, dann gibt Sokolov Live-Mitschnitte frei, Dokumente also, die die Spannung des Augenblicks in sich tragen. Das Lampenfieber vor dem Auftritt ist dafür eine wesentliche Voraussetzung. „Die nervliche Anspannung ist ein untrennbarer Teil der Musik. Wenn man spielt, als würde man gerade eine Tasse Tee trinken, dann ist das keine Musik”, sagt er dazu und dementsprechend zwingend braucht Sokolov für den nötigen Spannungszustand sein Publikum. Seine sonstige Beziehung zur Zuhörerschaft bezeichnet er als „Einbahnstraße”. Er gibt, das Publikum bekommt.

Soeben ist einer dieser Live-Mitschnitte bei der Deutschen Grammophon erschienen: „The Salzburg Recital”, ein Klaviersoloabend, den Grigory Sokolov im Sommer 2008 bei den Salzburger Festspielen gegeben hat und der ein beeindruckendes Zeugnis seiner kompromisslosen Kunst darstellt. Lauscht man dem Programm unter den Händen von Sokolov, meint man den Künstler direkt vor sich zu sehen: einen massigen, bärigen Koloss am Klavier, die schütteren weißen Haare über den Kragen des Fracks gestreift, den Kopf über die Tasten gesenkt, die Stirn in Falten, die Augen geschlossen. Hingebungsvoll widmet sich der Künstler den beiden F-Dur-Sonaten K 280 und K 332 von Wolfgang Amadeus Mozart, er tupft, haucht und streichelt die Töne in die Tasten, lockt die Musik mit wenig Pedal und stiller Größe aus den sicheren Gefilden heraus und trägt sie dorthin, wo es existenziell wird, wo jeder Atem, jede melodische Wendung und jeder harmonische Wechsel die Welt bedeuten. Mozart, so verstanden, klingt nie nur schön, leicht und farbenreich. Mozart, so verstanden, hat eine herzzerreißende Tiefe, die Sokolov in seinem Spiel mit akribischer Manie wahrhaftig ans Tageslicht befördert. Nur selten blitzt Humor auf in seinem Spiel, viel zu ernst ist es Sokolov mit der Musik, jener Seite des Lebens, die von ihm nie als Beruf verstanden wurde, sondern immer als ein Aspekt des menschlichen Seins. In den 24 Préludes op. 28 von Frédéric Chopin erscheint dieses Sein in mannigfaltiger Farbigkeit, hybrid ausgeleuchtet, schmerzhaft und unnachgiebig an die Grenzen getrieben, eine manische Gratwanderung zwischen überirdischer Schönheit und düster drohendem Abgrund. Sokolovs makellose, brillant virtuose Technik steht bei diesem Balanceakt immer im Dienste der Musik. Sie schafft die Basis für die Freilegung höchster Musikalität, sie lässt den Klang voll und satt werden, ohne je massiv zu wirken und sie leuchtet in das pianistische Stimmgeflecht hinein gleich einem Scheinwerfer ins Dickicht. Sokolov wird dabei zum Mystiker an den Tasten: ein beseelt und besessen Suchender, der keinen einzigen Ton dem Zufall preisgibt und doch immerwährend ringt um die Freiheit der musikalischen Aussagen.

Der Konzertabend auf CD schließt, wie immer bei Sokolov, mit vielen und eigenwilligen Zugaben. Selten gehörte und außergewöhnliche Klanggebilde von Scrjabin, Rameau und Bach, Herausforderungen für das Publikum, das schlussendlich begeistert tobt, stampft und klatscht. Das Phantom Sokolov jedoch ist da längst entschwunden.