„Rock it, Rudi!“

„Seelenverwandt und menschlich sehr nahe“, so beschreibt der Pianist Rudolf Buchbinder sein Verhältnis zu Beethoven. Dessen Diabelli-Variationen sieht er als sein Lebenswerk. Und stellt ihnen verwandte Werke anderer Komponisten zur Seite. Das Ergebnis: mehr als einmal eine Verneigung vor Buchbinder.

crescendo / März 2020

Ein schlichtes „B“ steht neben der Klingel am Gartentor. „B“ wie Buchbinder. 73 Jahre alt, Weltklassepianist und längst ein Wiener Original. Seit über 40 Jahren wohnt Rudolf Buchbinder am Rande der österreichischen Hauptstadt. Von diesem Ort aus bereist der Künstler die Bühnen der Welt, gefeiert als hingebungsvoller Solist und passionierter Bühnenmensch mit brillanter Technik und ebenso direktem wie tiefgründigem Zugang zu den jeweiligen Stücken.

Buchbinder hat das Haus damals selbst entworfen und sein Arbeitszimmer unter dem Giebel so geplant, dass er vom Flügel aus durch die breiten Glasfronten auf die Wiener Hügel blicken kann. Auf der einen Seite des Raumes stehen zwei Steinway-Flügel, daneben thront die Beethoven-Büste, dahinter erstrecken sich prallgefüllte Regalwände mit Buchbinders Sammlung von Autographen und Erstausgaben, dem kompletten Werk von Shostakovich zum Beispiel, oder alleine 39 verschiedenen Erstausgaben der Beethoven Klaviersonaten. Auf der anderen Seite des Raumes nimmt der Pianist auf einem grauen Sofa mit aufgedruckten Klavieren Platz, nippt am „Kleinen Braunen“, öffnet später eine Cola und springt während des Gesprächs immer wieder unvermittelt auf. „Passen Sie auf, ich zeige Ihnen etwas“, ruft er inspiriert, eilt hinüber zur Regalwand und zieht zielsicher das jeweilige Stück heraus, von dem gerade die Rede war. Über den Flügel gebeugt, geht man mit Buchbinder dann auf Erkundungstour im Notationstext – empört sich über fehlerhafte Verlagseintragungen, entdeckt den Geschäftssinn eines Diabelli und Beethovens Vorliebe für sforzati.

Das Haus von Rudolf Buchbinder und seiner Frau ist eine Schatzkiste, prall gefüllt mit Zeugnissen eines reichen Künstlerlebens. Unzählige Bilder, Andenken und Widmungen an den Wänden und auf den Anrichten erzählen von Buchbinders Sinn für Kunst und seiner Freude an Geselligkeit. Im Gespräch zeigt sich Buchbinder denn auch als emotionaler, charmanter und wohltuend geerdeter Künstler mit wachem Blick, einem faszinierenden Wissensschatz und reichlich Wiener Schmäh.

 

Das „B“ neben der Klingel könnte längst auch für „Beethoven-Experte“ stehen. Alleine 60-mal hat Buchbinder sämtliche Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven weltweit aufgeführt – „Es ist verrückt. Jeder hat einen Vogel“, sagt Buchbinder und lacht. Die Musik Beethovens hat den Pianisten schon früh in den Bann gezogen und in gewisser Weise spürt er eine Seelenverwandtschaft zu dem Komponisten. „Ich fühle mich ihm menschlich sehr oft sehr nahe“, sagt Buchbinder, und in all den Jahrzehnten der immer wieder neuen und akribischen Auseinandersetzung mit Beethovens Werk hat er hinter der Musik einen außergewöhnlich facettenreichen und gefühlsintensiven Menschen kennengelernt. „Beethovens Musik ist absolut persönlich“, sagt Buchbinder, und jede einzelne Note spiegle den Gefühlszustand ihres Schöpfers wieder. So wisse man beispielsweise sofort, ob Beethoven verliebt gewesen sei. Meist sei die Tonart dann Es-Dur – „da wird Beethoven immer sentimental, fast banal“, sagt Buchbinder und lächelt. Überhaupt ist Beethoven für ihn ein Romantiker im eigentlichen Sinne. „Beethoven ist der einzige Komponist in der Musikgeschichte, der nach einem ‚espressivo‘ ‚a tempo‘ schreibt“, sagt Buchbinder. „Er war ein Mensch geprägt von Sehnsucht“ – jemand, „der sein Leben lang nach Liebe und Wärme gesucht hat“. Dabei sei Beethoven ja fraglos ein sozialer Typ gewesen. „Er liebte die Gesellschaft und dann hat er fast nichts mehr gehört. Das muss schrecklich gewesen sein“, sagt Buchbinder. Das Heiligenstädter Testament ist für den Interpreten das Schlüsselwerk, wenn es um ein tiefergehendes Verständnis von Beethovens Musik geht. „Das ist eines der erschütterndsten Dinge, die ein junger Mensch schreiben kann“. Mit gängigen Zuschreibungen wie „der Titan“ kann Buchbinder indes überhaupt nichts anfangen. „Das ist der allergrößte Blödsinn“, sagt der Musiker energisch und wischt mit der Hand durch die Luft.

Zum Beethoven-Jahr hat sich Buchbinder mit den Diabelli-Variationen nun noch einmal eines seiner Lebenswerke vorgenommen und den Grundgedanken des Variationsreigens spannend fortgesponnen. So hat er für das Doppelalbum „The Diabelli-Project“ nicht nur Beethovens Diabelli-Variationen eingespielt, sondern sie darüber hinaus ergänzt um eine Auswahl jener Werke, die zu Diabellis Thema von anderen Komponisten wie Franz Liszt oder Franz Schubert komponiert wurden. Und nicht nur das: Buchbinder schlägt den Bogen auch in die Gegenwart und hat bei zeitgenössischen Komponisten, darunter Brett Dean, Brad Lubman und Christian Jost, eine neue „Diabelli-Variation“ in Auftrag gegeben. Es sind furiose, äußerst unterschiedliche und oft waghalsig schwere Stücke geworden – und nicht selten Liebeserklärungen an Rudolf Buchbinder. „For Rudolf Buchbinder in admiration“, „Variation for RB“ oder „Rock it, Rudi!“ – die Titel sprechen für sich. „Die entstandenen Stücke sind unheimlich spannend“, sagt Buchbinder. „Da sieht man die ganze Palette, die ganze Vielfalt der Komponisten und Möglichkeiten.“

Buchbinder selbst hat nie ernsthaft mit dem Komponieren angefangen. „Wissen Sie“, sagt er, deutet auf die akribisch sortierten Notenbände in den Regalen, und legt belustigt den Kopf zur Seite: „Ich bin ja sehr organisiert. Ich hab ein Prinzip, ich will nicht eine Sekunde mit Suchen vergeuden. Aber meine einzige eigene Komposition habe ich so verräumt, dass ich heute nicht mehr weiß, wo sie ist. Weil sie so schrecklich ist. Das war ein Klaviertrio, ein kurzer Satz. Schrecklich.“

Der „Mikrokosmos“ der Diabelli-Variationen hat Buchbinder sein Leben lang begleitet, wie er erzählt. „In den Diabelli-Variationen spiegelt sich Beethovens gesamtes Leben wieder und sie tragen sämtliche Charakterzüge in sich: Sie sind melancholisch, sie sind heiter, dramatisch, schwermütig, traurig, humorvoll – es ist alles drin in diesen Stücken.“

Buchbinder liegt diese direkte Emotionalität von Beethovens Musik, die Ballung der Extreme. Vielleicht auch deshalb, weil er selbst stets 100 Prozent gibt und fade Kompromisse verweigert. Seine eigenen Ansprüche sind mit den Jahren nur gestiegen, erzählt Buchbinder. Schließlich gelte es, die Erwartungen des Publikums nicht nur zu erfüllen, sondern sie zu übertreffen. Im Musikverein gebe es da ja diesen schrecklichen langen Gang vom Künstlerzimmer zur Bühne. „Ich vergleiche ihn immer mit diesem Gang durch den die Löwen in den Zirkus laufen müssen“, sagt Buchbinder, der heute vor seinen Auftritten viel nervöser ist als in seinen jungen Jahren. Die Anspannung sieht man dem Künstler gleichwohl nicht an und erlebt man den Pianisten in der „Manege“, so scheint er mehr denn je aus dem Vollen zu schöpfen. Mit feinst austarierter Anschlagskultur meißelt er jedes Detail des Notentextes heraus und betört im selben Moment mit spielerischer Freiheit im Ausdruck und der klingenden Reife und Lebensweisheit eines unentwegt Fühlenden und Forschenden. Als junger Mensch sei man „unfrei, unflexibel und intolerant – gegenüber einem Rubato zum Beispiel“, so Buchbinder. Mit dem Alter wächst die innere Freiheit, so sieht er es, und mit der persönlichen Entwicklung gewinnen auch die jeweiligen Stücke, die er wieder und wieder aufführt, an Tiefe und subjektiver Ausdruckskraft.

Unzählige Konzerte hat Buchbinder in den vergangenen 6 Jahrzehnten bestritten. Mit dem Publikum hat der Künstler in all den Jahren viel erlebt und so sehr er die Bühnensituation liebt und den Zauber des Live-Moments, so sehr amüsiert er sich auch über manche Rückmeldungen der Zuhörer. „Das Publikum ist lustig mitunter. Ich habe einmal einen Klavierabend gegeben, mit der Mondscheinsonate. Ich hab als Zugabe zum Spaß den letzten Satz nochmal gespielt. Danach kommen die Leute zu mir ins Künstlerzimmer und fragen: Was war die zweite Zugabe? Es ist alles möglich.“, sagt Buchbinder nur und hebt grinsend die Hände in die Höhe. „Die blödeste Sache aber ist, wenn nach dem Konzert jemand ins Künstlerzimmer kommt und fragt: Are you happy? Entsetzlich. Oder noch etwas Schlimmes: man spielt einen Klavierabend und dann kommt danach so ein obergscheiter Bekannter und sagt: Mein Gott na: Der langsame Satz von der Pathetique – fantastisch! Dann frage ich: und alles andere war schlecht?“

 

Heute ist Rudolf Buchbinder mitten im Fluss seiner künstlerischen Entwicklung und Karriere, die im stetigen crescendo weiterströmt. Ein Ziel ist nicht in Sicht, ein Abklingen erst recht nicht. Der Pianist wirkt zufrieden und umtriebig, rastlos und erfüllt zugleich: ein leidenschaftlicher Diener der Musik, der auch unzählig Mal studierten und gehörten Werken neue Wendungen entlockt und im Konzert ganz bewusst immer wieder den Charme des ersten Mals heraufbeschwört. „Schauen Sie: Ein Maler malt ein Bild und das hängt dann, bis es zerstört wird, an einer Wand und der Betrachter muss seine Phantasie spielen lassen. Wenn ich nun die Appassionata heute spiele, spiele ich sie morgen womöglich ganz anders.“ Natürlich gebe es keinen ganz grundsätzlichen Interpretationsunterschied, aber kleine Details seien eben doch neu und anders. Deshalb ist Buchbinder aller Dokumentation zum Trotz auch kein großer Freund von Aufnahmen. Frühere Einspielungen von sich hört sich Buchbinder grundsätzlich nicht an, es sei denn, es handelt sich um wirklich historische Mitschnitte, Aufnahmen aus seiner Kindheit zum Beispiel. „Die meisten meiner CDs sind noch originalverpackt“, sagt Buchbinder lapidar. „Ich höre mich selber extrem ungern, das macht mich so nervös, ich halte mein Spielen nicht aus. Meine Frau darf das im Auto hören, wenn sie will.“ An seine Interpretation der Diabelli-Variationen von 1973 kann er sich nicht erinnern, sagt er, und auch seine Erst-Einspielung der Beethoven-Sonaten könne er sich nicht anhören. „Das bin ich heute nicht mehr“, sagt Buchbinder. Die Erkenntnis scheint ihn zu beglücken.