POSTKLASSISCH

Getragen von der Liebe zu seinen Landsleuten ist der junge Künstler Ólafur Arnalds auf die Suche gegangen nach isländischen Musikern, deren Leben und Kunst etwas erzählt von Island und dem Leben dort. Das Ergebnis ist eine intime und sehr persönliche Klangwanderung über die Insel.

crescendo / Oktober 2016

Die Winter sind eisig und die Sommer kurz, die Natur ist gewaltig und fast immer braust der Wind. Es gibt denkbar menschenfreundlichere Gegenden als Island. Und doch ist gerade jene Insel knapp südlich des nördlichen Polarkreises der Nährboden für eine außergewöhnlich kreative Musik-Szene, welche die Welt der Klassik regelmäßig überrascht und bereichert. Dort, wo sich in den Wintermonaten weniger als eine Stunde am Tag die Sonne zeigt und die erstarrten schwarzen Lavafelder von der mächtigen Kraft der Vulkane erzählen, findet sich eine auffallend hohe Dichte an jungen Künstlern, die scheinbar mühelos die stilistischen Grenzen überwinden und ebenso komplexe wie einnehmende neue Werke schaffen.

Einer jener isländischen Freigeister ist der Produzent und Komponist Ólafur Arnalds, ein schlaksiger junger Mann Ende zwanzig mit Drei-Tage-Bart, wachen hellblauen Augen und leiser Stimme. An einem Tag Anfang Juli sitzt Arnalds im beigen Wollpullover mit Wolf-Stickerei, einer schwarzen Hose und rotkarierten Socken auf einer sanften Hügelerhebung nahe dem Meer in Selvogur. Lässt man den Blick schweifen, fällt der Blick auf die Strandarkirkja, eine kleine weiße Holzkirche, über ihrem Giebel kreisen die Möwen, wenige Meter weiter brandet die Gischt. Mit angenehmen zwanzig Grad ist es für isländische Verhältnisse ungewöhnlich warm; noch prägen die langen weißen Nächte das Leben auf der Insel, bald schon wird es wieder dunkler werden und kalt.

An diesem Tag steht die dritte Etappe der „Island Songs“ auf dem Programm: einer musikalischen Hommage an Island und seine Bewohner, der Ólafur Arnalds den ganzen Sommer gewidmet hat: sieben Wochen von Mitte Juni bis Ende Juli, in denen er mit sieben verschiedenen Musikern und Ensembles an sieben verschiedenen Orten der Insel sieben neue Kompositionen von sich aufgenommen hat. Mit an Bord: Der renommierte isländische Filmemacher Baldvin Z, ein enger Freund Arnalds, der das Projekt mit seiner Kamera begleitet hat.

Die 45-minütige Fahrt zum Aufnahmeort des dritten Songs begann am frühen Nachmittag in Reykjavik. Noch kurz zogen die Häuserfassaden der isländischen Hauptstadt an den Fenstern vorbei, dann breitete sich karg und steinern die Weite der isländischen Landschaft vor den Augen aus, bald war kein Auto mehr zu sehen, kein Mensch, kein Haus, nurmehr Lavafelsen, Berge und das Meer. „Sehen Sie das?“, fragte Ólafur Arnalds und zeigte durch die Windschutzscheibe auf die mannshohen Schneestempen rechts und links der Straße. „Im Winter sind die überlebensnotwendig“. Wer auf der größten Vulkaninsel der Erde aufwächst, erfährt die Naturgewalten in ihrer ganzen archaischen Wucht. Das prägt und umso wichtiger werden die zwischenmenschlichen und künstlerischen Dinge.

In den Grundsound der raunenden Winde und der gurgelnden Schwefelquellen mischt sich auf Island nicht selten auch der Gesang der Inselbewohner. „Fast jeder singt hier, sehr viele spielen ein Instrument…die Musik prägt unser Leben sehr“, sagt Arnalds. Dort, wo viele Kilometer liegen zwischen den einzelnen kleinen Siedlungen, wo es monatelang kaum hell wird und selten einmal wirklich warm, schenkt die Musik mehr als ästhetischen Wohlklang. Sie stiftet Gemeinschaft, wärmt die Herzen, spendet Trost und sorgt für gute Laune. „Die Musik bringt die Menschen zusammen, sie sind über sie miteinander verbunden“, sagt Arnalds und verschränkt seine Hände. Der Musiker ist in dieser Welt voll Musik groß geworden. „Meine Mutter ist einer dieser singenden Menschen“, erzählt er und lacht, und die Musik habe schon immer als selbstverständlicher Teil zu seinem Alltag gehört. Schon früh haben er und seine Geschwister gemeinsam musiziert, er lernte Gitarre, Schlagzeug und Klavier, später spielte er in Rockbands, dann fing er mit dem Komponieren an. 2007 schließlich erschien sein erstes Soloalbum „Eulogy for Evolution“ und betrachtet man Arnalds musikalische Entwicklung bis zum heutigen Tag, so ist sie geprägt von der stetigen Suche nach neuen Klängen und Ausdrucksmöglichkeiten. „Es macht mir Spaß, verschiedene Dinge auszuprobieren und Neues zu erkunden“, sagt er selbst über seine Arbeit, die immer für Überraschungen gut ist. So kombiniert er Streichersätze mit elektronischen Klängen, mixt Elemente aus Pop- und Rockmusik mit klassischen Themen und schafft dabei ein eindringliches, einnehmendes und warmtönendes Gesamtbild. Bei alldem ist Arnalds kein Freund von engen Genregrenzen und scheut er die Einordnung in stilistische Schubladen ebenso wie die Festlegung auf Gattungsbegriffe. „Post-klassisch“ – diesen Begriff akzeptiert er am ehesten, wenn die Rede von seinem Stil ist.

Für die „Island-Songs“ hat Ólafur Arnalds versucht, die unterschiedlichen Menschen und Orte auf seinen sieben Stationen jeweils sensibel in Musik einzufangen. Getragen von der Liebe zu seinen Landsleuten ist Ólafur Arnalds zum Geschichtensammler geworden und auf die Suche gegangen nach isländischen Musikern, deren Leben und Kunst etwas erzählt von Island und dem Leben dort. Das Ergebnis ist eine intime und sehr persönliche Klangwanderung über die Insel geworden. „Meine Musik ist dabei immer nur das Medium, der Weg der Begegnung“, sagt Arnalds.

Zu seinem Projekt hat Arnalds ganz unterschiedliche Musiker eingeladen. Da ist Ólafur Arnalds Cousine, die Organistin Dagný Arnalds. Zusammen mit ihrer Familie lebt sie in der isländischen Einöde und bricht im Winter der Schnee herein, sitzt sie manchmal für einige Tage fest. Für seine „Islands Songs“ hat Arnalds sie in Flateyri getroffen, einem Ort mit tragischer Geschichte. Im Jahr 1995 gab es hier ein Lawinenunglück mit etlichen Toten, seither hängt „eine Aura der Traurigkeit“ über diesem Fleck Islands und Arnalds Stück spiegelt die Stimmung in retardierenden Mustern, herbstlichen Klangfarben und traurig kreisenden Melodiepattern wieder. Dann ist da der Dichter Einar Georg Einarsson, dessen Werk mit mystischer Poesie das Raunen der Insel einfängt und den Arnalds für die erste Station seiner Reise in Hvammstangi getroffen hat. Da ist außerdem der Hornspieler Þorkell Jóelsson, den Arnalds in seiner eigenen Heimatstadt Mosfellsdalur besucht. Oder Nanna Bryndís Hilmarsdóttir, die Sängerin der Band „Of Monsters and Men“, die mit Ólafur Arnalds in der winzigen Gemeinde Garður einen intimen und gefühlvollen Song aufnimmt, bevor das Projekt in der Iðnó Concert Hall in Reykjavik seinen Abschluss findet. Ólafur Arnalds selbst spielt bei den Songs entweder Keyboard oder Synthesizer und gleichwohl die einzelnen Stücke sehr unterschiedlich daherkommen, eint sie alle ein melancholischer Grundton, der sich, meist mit Streicherbesetzung, meditativ und soghaft entfaltet.

In Selvodur trifft Arnalds an diesem Tag Anfang Juli auf den South Iceland Chamber Choir unter der Leitung von Hilmar Örn Agnarsson, mit dem er hier sein Stück „Raddir“ aufnimmt. In der Kirche am Meer laufen mittlerweile die Proben. An den Wänden prangen goldene Sterne auf hellblauem Hintergrund, von der Decke baumelt ein antiquiert wirkender Kronleuchter, im Altarraum wacht eine Marienfigur. Während Baldvin Z mit der Kamera durch den Mittelgang fährt, sitzt Arnalds versunken am Synthesizer. Bald darauf stimmen die Sänger in den Kirchenbänken sanft die Melodie an, dann setzen die Streicher ein und Arnalds Musik scheint gleich einem endlosen Strom dahin zu fließen und immer dichter und inniger zu werden, bevor sie schließlich in der Stille verklingt.

Im Oktober erscheint nun das entstandene Album, das die sieben Kompositionen Arnalds in sich vereint und zu einem berührenden und farbintensiven Stimmungsgemälde geworden ist. Gleich einem Puzzle mit sieben Teilen offenbart es das musikalische Bild eines Landes, dessen Bewohner ebenso vielfältig sind wie Arnalds Stücke und dessen schroffe und unwirtliche Natur gleichzeitig der Quell für besonders tiefe Inspiration und Empfindsamkeit zu sein scheint. Neben dem Audio-Album ist zudem eine Filmdokumentation geplant, die den Entstehungsprozess der einzelnen Aufnahmen zeigt und, ergänzt durch Interviews mit den verschiedenen beteiligten Künstlern und Landschaftsaufnahmen der Insel, ein dichtes menschliches wie musikalisches Porträt dieses besonderen Landes entwirft.

„Wir Isländer umarmen uns nach langen Tagen“, sagt Arnalds am Ende des Aufnahmetages im kleinen Selvogur. Dann lächelt er zufrieden und drückt jeden Einzelnen der Musiker fest. Die Winter mögen eisig sein und die Sommer kurz. Für die Wärme sorgt auf Island die Musik.

Dorothea Walchshäusl