Der stille Virtuose

Sein erstes Konzert gab Olivier Cavé mit der Camerata Lysy unter der Leitung von Yehudi Menuhin. Dann wurde der Schweizer der Liebling von Maria Tipo und gehört heute zu den feinsinnigsten Pianisten seiner Generation. Ein Treffen in Paris.

crescendo / Dezember 2016

Die Wege der Liebe sind unergründlich, das gilt auch für jene zwischen Musikern und ihrem Instrument. Mal begegnen sich die Protagonisten auf klassischen Pfaden, mal finden sie über verschlungene Irrwege zueinander, mal spielen verrückte Zufälle eine Rolle, mal wegweisende Begegnungen. Bei Olivier Cavé stand am Beginn seiner Liebe zum Klavier die Hilflosigkeit seiner Eltern. „Ich war ein seltsames Kind“, sagt der Pianist und lacht – zumindest haben ihm das seine Eltern erzählt. Auffallend still, in sich gekehrt und verschlossen sei er gewesen, und seine Eltern suchten nach einem Mittel, um ihn aus sich herauszulocken. Erst probierten sie es mit Sport. Als das nichts half, versuchten sie ihr Glück mit Musik. Das wirkte. Mit vier Jahren fing Olivier Cavé an, Klavier zu spielen, und es dauerte nicht lange, da war es um ihn geschehen. „Ich habe mich verliebt in das Klavier und fortan nicht mehr aufgehört zu spielen“, erzählt Cavé, dem das Spielen von Anfang an auffallend leichtfiel. „Es war sehr einfach für mich“, sagt der Künstler mit dem konzentrierten Blick und hebt fast entschuldigend seine beiden Hände.

Bis heute sei das so. Geht es jedoch um die für ihn gültige Interpretation, wird aus dem spielerisch agierenden Techniker ein akribischer Perfektionist, der monatelang an den Phrasen feilt und die Stücke bis in den letzten Ton durchdringen will: „Ich habe eine sehr klare Idee von einem Stück, davon, wie es im Endeffekt klingen soll. Daran tüftle ich bis zuletzt.“

An einem lauen Herbsttag Ende Oktober sitzt Olivier Cavé in der Lobby des Hotel Le Bristol in Paris, bestellt ein Omelett und nippt am Kaffee. Es ist noch früh am Morgen, vor den Schwingtüren des Hotels schwirrt bereits das Leben der Großstadt, im Inneren eilen flüsternd die Kellner herbei, und der Tee wird in geblümten Porzellankännchen serviert. Am Vorabend hat der Schweizer Pianist neapolitanischer Herkunft ein Konzert im Salle Gaveau gegeben. Auf dem Programm stand Mozart pur, darunter seine Klavierkonzerte Nr. 25 und Nr. 5, dargeboten von Cavé und dem Divertissement unter der Leitung von Rinaldo Alessandrini, außerdem die Jupitersinfonie und Auszüge aus der Serenade Nr. 99 KV 320 „Posthorn“.

Für den schmalen Mann Ende 30 war es sein zweites Konzert in Frankreich, bislang ist er vor allem in den USA unterwegs, außerdem konzertiert er regelmäßig in der Schweiz, wo er 1977 auf die Welt gekommen ist. Doch es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis er auch die anderen europäischen Bühnen bespielen wird. Ebenso klar scheint: Olivier Cavé wird dies nicht mit pathetischem Gestus, mit voranpreschendem Stargebaren und tosendem Virtuosentum tun, viel eher wird er die Podien mit leisen Schritten erobern, mit feiner Poesie, reflektiert und ehrlich.

Olivier Cavé ist kein Sturm-und-Drang-Typ, kein ungestüm emotionaler Spieler, der sich in die Tasten stürzt, als vergäße er die Welt um sich herum. Cavé ist ein kritischer Denker und feinsinniger Maler, der die Farben mit zarten Pinseln tupft, bestimmt und wohlüberlegt die Linien zieht und Klanggemälde von ausgewogener Ästhetik und wohl dosierter Farbigkeit entstehen lässt. Erlebt man Cavé mit Mozart, etwa beim Konzert im Salle Gaveau oder auf seinem jüngsten Album mit eben jenen Werken in gleicher Besetzung, so ist es, als würde man einem eindringlichen Erzähler bei der Arbeit lauschen. „Die ganze Musik von Mozart ist Oper. Das alles ist Theater … mit Humor, mit Tragödie, mit unterschiedlichen Figuren und Szenerien. Wenn ich diese Musik spiele, dann fühle ich mich durch und durch gut“, sagt Cavé und strahlt.

Für den Pianisten, der sich insbesondere dem barocken und dem klassischen Repertoire verschrieben hat, steht Mozart am jüngsten Ende einer Reihe bemerkenswerter Einspielungen, die einen intensiven Eindruck vermitteln von seinem musikalischen Selbstverständnis. Auf seiner Debüt-CD widmete er sich Sonaten von Domenico Scarlatti, dann folgten ein viel beachtetes Album mit Werken von Muzio Clementi und eine Bach-CD mit dem Titel „Nel Gusto Italiano – Concerti, Capriccio ed Aria“.

Sein erstes Konzert gab Olivier Cavé im September 1991, begleitet von der Camerata Lysy unter der Leitung von Yehudi Menuhin. Für den gerade mal 13-jährigen Cavé war das eine Schlüsselerfahrung. „Das gemeinsame Musizieren mit Yehudi Menuhin war unglaublich. Als Kind war mir gar nicht so sehr bewusst, mit wem ich hier auf der Bühne stehe. Ich habe es damals einfach nur genossen. Erst später wurde mir klar, was für ein Geschenk das war.“
Die Begegnung mit Menuhin hat Cavés weiteres Leben geprägt, auch deshalb, weil der erfahrene Künstler Cavés Eltern eindringlich ans Herz legte, ihren Sohn weiter zu fördern. Für Olivier Cavé selbst war ab diesem Augenblick klar, dass er Pianist werden wollte.

Geahnt hatte er seine Berufung schon früher. Als er acht Jahre alt war, das Klavier war längst ein vertrauter Freund und Lebensbegleiter geworden, da schenkten ihm seine Eltern eine CD der Pianistin Maria Tipo. Die italienische Künstlerin spielte darauf Werke von Scarlatti, und wenn sich Olivier Cavé recht erinnert, hat er sie an die 2.000 Mal angehört. „Ich habe diese CD geliebt“, erzählt Cavé, und blickt er heute auf die Passion seiner Kindertage zurück, so war sie der Anfang all dessen, was ihn auch heute noch beseelt und beglückt: „Diese Musik ist so voller Freude – das ist ein einziger Genuss.“

Olivier Cavé war schon bald klar, dass er bei Maria Tipo studieren wollte. „Ich war vollkommen darauf fixiert gewesen, diese Künstlerin kennenzulernen“, sagt Cavé, und es gehört zu den glücklichen Fügungen seines Lebens, dass er tatsächlich ganze zehn Jahre in der musikalischen Obhut von Tipo an seinem Klavierspiel feilen konnte. Nach Studien am Konservatorium Sitten und am Konservatorium Lausanne begann er, an der Musikschule von Fiesole schließlich mit Maria Tipo zu arbeiten. Sie hat ihm ein breites Spektrum an Werken nähergebracht und in ihm darüber hinaus die Liebe zu jenem Repertoire gestärkt, das ihn bis heute am innigsten begleitet. Scarlatti, Clementi, Bach … all jene Komponisten, die für Olivier Cavé heute zu seinen engsten Begleitern zählen, hat er mit Maria Tipo erst wirklich kennen- und lieben gelernt.

Gleichwohl: Auserwählter Zögling von Tipo zu sein, bedeutete, die Zuwendung, aber auch den Druck einer musikalischen Übermutter zu genießen. „Es war wahnsinnig hart, mit Tipo zu arbeiten“, erzählt Cavé im Rückblick, und was sie von ihren Studenten forderte, sei enorm gewesen. Während er in der Schweiz noch sechs Monate Zeit gehabt hatte für die Erarbeitung einer Beethoven-Sonate, standen bei Tipo bisweilen gleich vier Sonaten in nur einem Monat auf dem Programm. Ein forderndes Pensum, vorangetrieben von einer Frau mit eisernem Willen und enormer Präsenz. „Maria Tipo ist eine sehr, sehr starke Person“, sagt Cavé und unterstreicht mit seinen Händen jedes seiner Worte mit Nachdruck. „Sie gibt alles für einen, aber sie verlangt auch alles.“

Bis heute verbindet ihn mit der mittlerweile 84-Jährigen eine enge Beziehung, und spricht er von seiner Zeit als ihr Schüler, so wählt er ohne Zögern den Begriff der „musikalischen Mutter“. Doch wie das manchmal so ist bei Müttern und ihrem Nachwuchs – die Kinder gehen ihren eigenen Weg. Das war auch bei Olivier Cavé der Fall. „Ich bin heute ein anderer Pianist als damals“, sagt er nachdenklich, und würde Maria Tipo ihm heute bei seinem Spiel zuhören, so ist er sich nicht sicher, ob ihr das Ergebnis gefiele. „Ihre Welt ist auch meine“, das stellt Cavé fest. Die gemeinsame Welt, das ist Scarlatti, das ist Bach und das ist auch Mozart. Ihre Zugänge zu diesem klingenden Kosmos allerdings sind mittlerweile sehr verschieden.

Während Maria Tipo nach wie vor in einer traditionellen Spielweise verwurzelt ist, hat sich Olivier Cavé daran gemacht, die Musik von allem Antiquierten und Überladenen zu befreien und filigran und agil ihren Wesenskern zu ergründen. Dazu benutzt er kaum Pedal, orientiert sich, obwohl er den modernen Konzertflügel benutzt, am Klangcharakter des historischen Hammerklaviers und zeigt sich als ebenso smarter wie zugewandter Interpret. Spielt Olivier Cavé Mozarts Klavierkonzerte, tritt er weniger als Solist, denn als Kammermusiker auf, der mit dem Orchester in einen lebendigen, vertrauten Dialog tritt. Fern allem wuchtig Massiven lockt er so einen geradezu jungfräulich anmutenden Mozart hervor, der scherzt und tänzelt, der umgarnt und verführt und das Publikum schließlich zu begeisterten Jubelrufen hinreißt.

Cavé hat sowohl die Schweizer als auch die italienische Staatsbürgerschaft. Doch spricht er von Scarlatti, von Neapel und den italienischen Märkten, dann wird klar, welcher Nation sein Herz gehört. „Ich lebe zwar in der Schweiz und ein paar Monate im Jahr auch in den USA“, sagt Cavé und nimmt einen Schluck Wasser. „Der Musiker in mir aber ist durch und durch Italiener.“ Dann lacht er herzhaft und eilt zum Ausgang. In wenigen Stunden startet sein Flieger. Es geht nach Italien.