Unangestrengte Meisterschaft

Das Spiel von Kenny Werner vereint die Schwermut des traurigen Poeten mit der Dichte des kritischen Denkers. Auf seinem aktuellen Trioalbum „Melody“ zeigt sich der amerikanische Jazzpianist
in Höchstform. Dorothea Walchshäusl stellt ihn im Porträt vor.

Fono Forum / August 2015

Die einen nennen es Jazz, die anderen nennen es Kunst. Kenny Werner selbst meidet beides. „Vermutlich bin ich so einer, ein Jazzmusiker“, sagt der amerikanische Pianist und lacht trocken. „Doch wenn ich über Musik als ‚Kunst‘ nachdenke, dann werde ich extrem uninspiriert“.

Der Grandseigneur des Jazzpiano wird in diesem Jahr 64 Jahre alt und wenn es etwas gibt, was er verabscheut, sind es hölzerne Definitionen und kleinkariertes Schubladendenken. Jazz ist für ihn nur „eine bestimmte Art der Improvisation“, kein stilistisches Dogma und für sich betrachtet ein ziemlich irrelevanter Begriff. Was für Werner viel mehr zählt, ist die innere und die damit einhergehende musikalische Freiheit – jener Bewusstseinszustand also, den Werner, der Pädagoge, in seinem viel bewunderten Buch „Effortless Mastery“, unangestrengte Meisterschaft, genannt hat. Vor fast zwanzig Jahren hat Kenny Werner dieses Werk veröffentlicht und bis heute trägt es bei unzähligen Workshops und Masterclasses Früchte. Wer es zur unangestrengten Meisterschaft gebracht hat, macht ebenso selbstverständlich Musik, wie er redet und schreibt, wie er läuft, wie er isst und wie er atmet. Kenny Werner selbst hat diese intuitive Präsenz in seinem Spiel zur Perfektion getrieben. Oft gleichen seine Darbietungen einem meditativen Strom, der alles beiläufig Störende außen vor lässt und sich in höchster Konzentration seinen Weg in die Herzen der Zuhörer bahnt. „Darum geht es vor allem“, sagt Kenny Werner: „Beim Spielen zu einem Zustand zu gelangen, in dem einem der Kopf nicht im Weg steht. Es geht darum, dass man ganz im Moment ist beim Spielen.“

Der Meister der unangestrengten Meisterschaft kam 1951 in Brooklyn auf die Welt. Als er sieben Jahre alt war, entdeckte er auf der Geburtstagsfeier eines Freundes das Klavier und war von da an kaum mehr weg zu bekommen von den Tasten. Als strömte die Musik aus ihm heraus, improvisierte er zu allem, was er im Radio und im Fernsehen hörte, er ahmte Jingles nach und Viktor Borge und spielte, als habe er nie etwas anderes getan. „Ich habe von Beginn an improvisiert und auch wenn ich de facto erst spät zum Jazz kam, war mir die Improvisation schon immer am wichtigsten“, sagt Werner. Die offiziellen Wegstationen seiner Ausbildung waren in späteren Jahren die Manhattan School of Music und das Berklee College of Music, wobei Werner seine eigentliche Entwicklung als Musikerpersönlichkeit vor allem mit sich selbst ausmachte. „Ich wurde viel mehr durch philosophische als durch musikalische Erkenntnisse beeinflusst“, sagt Werner, und die immerwährende Suche nach tieferer Erkenntnis verlieh seinem Spiel jene Inspiration, die weit über die bloßen Noten hinausreicht. „Wer bin ich wirklich? Wie lebt man ganz im Moment? Solche Fragen haben mich schon früh beschäftigt und die Musik wurde zu meinem Weg, mich auszudrücken“, so Werner.

Erlebt man den Suchenden beim Spiel, so entdeckt man im kräftigen Körper des Jazzgiganten die zarte Seele eines hypersensiblen Feingeists. In zentrierter Haltung ruht der 63-Jährige am Klavier, die Augen geschlossen, der Atem ruhig, dann legt er die Hände auf die Tasten. Mit instinktiver Sicherheit lässt er die ersten Töne erklingen, bald zieht er seine Schultern bebend nach oben und wiegt den Kopf sanft hin und her. Werners Spiel hat die Schwermut eines traurigen Poeten und die Dichte eines selbstkritischen Denkers. Wie in Trance scheint er mit der Musik zu tanzen, er folgt ihr mit sanft hingestreicheltem Anschlag in warm ausgeleuchtete Klangräume und verweigert alles vordergründig Plakative. Die großen Effekte scheut er dabei ebenso wie eine Virtuosität, die nur ihrer selbst willen existiert. Dies beweist er auch im Zusammenspiel mit anderen Musikern. Während vergleichbare Koryphäen genüsslich ihre Soli auskosten und mit imposant herausgestellter Waghalsigkeit glänzen, ist Kenny Werner ein kollegialer Kammermusiker, der die musikalischen Fäden viel lieber im Hintergrund zusammenführt, als ihre enge Verwobenheit durch Alleingänge aufs Spiel zu setzen. „Ich brauche Musiker, die selbst Ideen mitbringen und mich nicht nur begleiten“, sagt Werner und ein Solo sei dann nie nur ein Solo, sondern immer eine Reaktion aufeinander.

Die Schatzkiste seiner bisherigen Karriere ist reich bestückt an Begegnungen mit namhaften Musikerpersönlichkeiten. Er hat mit Charles Mingus gespielt und mit Joe Lovano, er tourte mit Toots Thielemans und war Mitglied des Mel Lewis Orchestra. Ebenso üppig wie vielfältig ist auch Werners Discographie. Da finden sich berückende Soloaufnahmen wie „Meditations“ oder „Me, Myself and I“ – berührend intime Zeugnisse von nahezu testamentarischem Ernsthaftigkeit, die mit verinnerlichter Tonsprache und zart schwebenden Improvisationen überzeugen. Daneben stehen Duoaufnahmen wie das Album „Walden“ mit dem kongenialen Saxophonisten Benjamin Koppel: eine lyrische Sammlung an musikalischen Erzählungen, gefühlsintensiv und dicht; zudem gibt es etliche bemerkenswerte Einspielungen in größeren Ensembles, „“Lawn Chair Society“ zum Beispiel, oder „Beauty Secrets“. Sein außergewöhnlichstes Werk schrieb Kenny Werner im Jahr 2006. Damals kam seine Tochter Katheryn bei einem Autounfall ums Leben und für Werner erstarben für Monate der Sinn und der Klang seines Lebens. In dieser Phase tiefster Trauer komponierte er das Stück „No Beginning, No End“, eine musikalische Reflexion über das Leben und den Tod und eine ebenso persönliche wie suggestiv packende Komposition. „Dieses Stück ist das Wichtigste und persönlichste Stück, das ich je geschrieben habe“, sagt Werner selbst und es habe einige Zeit gedauert, bis er sich wieder an eine Komposition von annähernd ähnlicher Intensität herangewagt hätte. „No Beginning, No End“ erzählt als farbig orchestriertes Drama die Geschichte der irdischen Endlichkeit und ihrer Auflösung in der Transzendenz. Flirrende Improvisationen kulminieren in einer drastischen tonalen Darstellung des Crashs, bevor sich lyrisch singende Phrasen mit energetisch kreisenden Rhythmen abwechseln und schließlich in einem kammermusikalisch durchkomponierten Melodiefluss der Unendlichkeit entgegen strömen.

Ein furioses Opus, an Intensität kaum mehr zu übertreffen. Es sei denn, man erlebt Kenny Werner im Trio, der für Kenny Werner schon immer „wichtigsten Form, um mich selbst auszudrücken“. Mit Johannes Weidenmüller (b) und Ari Hoenig (dr) hat er nun das Album „The Melody“ herausgebracht, eine Aufnahme strotzend vor hintersinniger Spielfreude und Innigkeit im Klang.

Die einen nennen es Jazz, die anderen nennen es Kunst.