«Wenn man Kunst macht, darf man keine Angst davor haben, dass Leute sich aufregen», sagt der Komponist Moritz Eggert

NZZ / März 2024

Er kritisiert die Nostalgie im Konzertbetrieb und akademische Blasen in der Gegenwartsmusik. Entscheidend sei nicht, was alles in den Partituren stehe, sondern dass Musik ihre Hörer unmittelbar erreiche, meint Moritz Eggert. Begegnung mit einem Provokateur wider Willen.

Mit Klischees sollte man vorsichtig sein. Jenem vom verrückten Künstler zum Beispiel, der mit Hingabe Konventionen sprengt und die Provokation zu seinem Lebensinhalt erklärt. Einer, der dieses Bild angeblich hinreichend erfüllt, ist Moritz Eggert: Komponist, Pianist und oft als «Bad Boy of Music» betitelt. Anfang März sitzt dieser böse Knabe in einem Hotel in Lörrach – und seufzt erst einmal tief. Unzählige Male schon wurde er mit diesem Klischee konfrontiert, unzählige Male schon fühlte er sich verkannt. «Ein bisschen Verrücktheit gehört dazu», sagt Eggert, aber Provokation als Selbstzweck habe ihn nie interessiert. Stattdessen gehe es ihm darum, in seiner Kunst wahrhaftig zu sein, sich selbst und den Hörern gegenüber.

Im Gespräch ist der 58-Jährige ein reflektierter, feinsinniger Zeitgenosse, der die Freiheit der Kunst mit Leidenschaft verteidigt – nicht zuletzt gegenüber Denkverboten. Genauso unbeeindruckt von ästhetischen Dogmen komponiert er auch. Mit seinem Zyklus «Hämmerklavier» erweitert er das Klavierspiel ins Performative, teilweise mit Ganzkörpereinsatz. Für die WM 2006 hat er ein Fussball-Oratorium («Die Tiefe des Raumes») geschaffen, das die religiöse Verehrung im Sport ironisiert. Und im Liederzyklus «Neue Dichter Lieben» vertont er Gedichte zeitgenössischer Autoren als Spiegel und Brechung romantischer Liebesemphase.

Oft waren die Zuhörer begeistert, manchmal hagelte es Verrisse, sogar von handgreiflichen Auseinandersetzungen im Publikum weiss er zu berichten. «Ich bin nicht auf Krawall gebürstet», stellt Eggert klar. Allerdings findet er auch: «Wenn man Kunst macht, darf man keine Angst davor haben, dass Leute sich aufregen.»

Im beschaulichen Lörrach ist die Stimmung derweil friedlich. Hier zeigt sich Eggert mit seiner Vertonung des Hitchcock-Psychodramas «Blackmail» erstmals auch als Filmmusikkomponist. Im Herbst wird die Kooperation auf Arte zu sehen sein, Anfang März feierte sie im Burghof Lörrach unter der Leitung von Titus Engel ihre Uraufführung, gespielt von der Basel Sinfonietta. Im Zentrum des Films steht, modern gesprochen, eine #MeToo-Geschichte rund um Alice, eine Frau, die in Notwehr ihren Liebhaber ersticht, der sie vergewaltigen wollte. Ihr Mann, ein Polizist, soll den Mord aufklären. Im Verlauf der Geschichte wird Alice von einem Mitwisser erpresst, am Ende schützt sie ihr Mann, und sie bleibt frei; die Schuld aber wird zu ihrem inneren Gefängnis.

Für seine Komposition hat Eggert den Film Szene um Szene durchdrungen. Sein Respekt vor Hitchcocks Meisterschaft ist dabei nur gewachsen. «Man merkt, mit wie viel Liebe und Kunstfertigkeit wirklich jedes Detail stimmt. Da ist alles absichtlich, nichts zufällig. Das ist einfach nur genial», so Eggert. Während seiner Arbeit hat er in Gedanken mit dem Regisseur kommuniziert und sich gewissermassen als Teil des Teams gefühlt. Detailgenau verknüpft mit den jeweiligen Kameraeinstellungen und Schnitten, entstand auf diese Weise eine psychologische Klangkulisse, die Hitchcocks spannungsvolle Bildsprache packend in Töne übersetzt.

«Freie Musik» – so nennt Eggert seine Art zu komponieren. Frei zu sein, bedeutet für ihn auch, dass er unabhängig ist von bestimmten Erwartungshaltungen. Besonders befremden ihn jene, die seiner Erfahrung nach im akademischen Kontext bei Neue-Musik-Verfechtern vorherrschen.

Schon etliche Male sass Eggert in der Jury von Kompositionswettbewerben und hat dort erlebt, welche ungeschriebenen Gesetze über die Auswahl eines Stückes entscheiden: «Das Partitur-Bild muss kompliziert aussehen. Die Streicher müssen immer geteilt sein. Es muss möglichst viele Taktwechsel geben. Jedem Stück muss eine mindestens zehnseitige Legende mit Spielanweisungen und technischen Spezialeffekten beiliegen. All diese Dinge spricht zwar keiner aus, aber sie entscheiden über die Anerkennung im akademischen Zirkel», so Eggert.

Aus seiner Sicht geht das komplett an der Sache vorbei: «Wenn du im Publikum sitzt, interessiert dich doch nicht, was in der Partitur steht», meint Eggert. Entscheidend sei allein die Frage, ob die Zuhörer berührt würden von der Musik und ihre Intention verstünden. «Wir müssen als Komponisten mehr in Kontakt sein mit dem Publikum, um zu merken, ob wir überhaupt ankommen mit dem, was wir machen», findet Eggert.

Mit Anbiederung an simplen Hörgeschmack oder einer Abwertung der Hochschulen als Ausbildungsstätten hat das laut Eggert, der selbst eine halbe Stelle als Professor an der Musikhochschule München innehat, nichts zu tun. Stattdessen empfindet er es als seine Verantwortung als Künstler: «Es geht nicht darum, dass alle meine Musik lieben. Aber ich möchte, dass grundsätzlich jede Person einen Zugang zu meiner Musik finden kann, auch wenn sie keine akademische Ausbildung hat und noch nie klassische Musik gehört hat», sagt Eggert.

Wie also kam es zu dem «Bad Boy of Music»-Titel? Auslöser waren Artikel, die Eggert vor mittlerweile sechzehn Jahren in der «Neuen Musikzeitung» veröffentlicht hat. Mit Bezug auf die gleichnamige Autobiografie George Antheils übte er darin Kritik an Stereotypen der Neuen Musik. Die Reaktionen sprachen für sich: «Es gab zahlreiche böse Leserbriefe, und Leute haben mich krass beschimpft und beleidigt», sagt Eggert. Das «Bad Boy»-Image ist ihm geblieben, er trägt es mittlerweile mit Fassung. Vor allem aber bezieht er auf seinem «Bad Blog Of Musick» weiterhin regelmässig Stellung, entlarvt akademische Blasen und hinterfragt das Selbstverständnis zeitgenössischer Musik.

Viel zu lange habe sich die klassische Kunst «in einer Nostalgie-Blase eingekuschelt». Dabei sei er absolut dafür, alte und ältere Musik aufzuführen. «Aber wir brauchen gleichberechtigt auch die heutige Musik, denn nur diese kann einordnen, was heute passiert. Sie kann Visionen für die Zukunft entwickeln, Vergangenheitsbewältigung sein und Kommentar zur Gegenwart.»

Er selbst versucht diesem Anspruch mit jedem seiner Werke gerecht zu werden, im vollen Bewusstsein, dass das Scheitern dazugehört. Umso mehr reizt es ihn, immer wieder aufs Neue einzutreten in den «wilden, freien Raum der Kreativität». «Je bescheuerter eine Idee ist, desto interessanter finde ich sie und desto kreativer werde ich», sagt Eggert. «Die Möglichkeit im Unmöglichen» zu finden – das ist es, was ihn antreibt.